05.09.2019 – 08.09.2019
Biskaya ¦ 371NM
Parasailor? Code Zero und co.? Nein, das sind keine neuen kalorienarmen Getränke. Das sind Segel. Gute Segel. Massangefertigte und dementsprechend teure Segel, die jeder, speziell der Langfahrtsegler, der sich mit achterlichen Winden beschäftigen muss, kennt.
Und wenn sich ein Langfahrtsegler an der klassischen „Barfussroute“ orientiert, weiss er, welche Vorteile solche Spezialsegel mit sich bringen.
Die „Barfussroute“ führt nämlich einmal – mehr oder weniger – am Äquator entlang von Ost nach West und wird vom vorherrschenden Passatwind geprägt.
Ganz kurz: Parasailor und co. lassen das Segeln mit achterlichem Wind (= Wind von hinten) eines direkteren Kurses zu und man muss nicht vor dem Wind kreuzen = im Zickzack fahren = mehr Strecke und Zeit benötigen.
Wer es etwas genauer beschrieben haben will, hier eine kleine Zusammenfassung von Bobby Schenk: „Die clevere Idee hinter dem Parasailor ist, komplizierte jahrzehntelange aerodynamische Entwicklungen aus der Gleitschirmfliegerei zu übernehmen. Das Segel setzt den Winddruck über das sich in einer großen Düse befindliche aerodynamische Profil gleichzeitig in Vortrieb und(!) Auftrieb um. Das Parasailor fliegt der Yacht sozusagen voraus. Segel, Düse und Flügel bilden dabei eine nach aerodynamischen Gesetzmäßigkeiten entwickelte Einheit. Hieraus ergeben sich bemerkenswerte Verbesserungen gegenüber reinen platten Tuchflächen: Zum einen wird so eine gegenüber einem Spinnaker deutlich gesteigerte Standstabilität erreicht, zum anderen wird das Rollen und Schaukeln von Einrumpfyachten deutlich abgemildert. Folge: Höhere Kursstabilität – keine “Sonnenschüsse” mehr.“
Quelle: https://www.yacht.de/schenk/parasil/parasil.html
Es ist der 05. September 2019, 23 Uhr. Meine dreistündige Schicht hat vor 15 Minuten begonnen und ich sitze warm eingekleidet, mit eingepickter Rettungsweste und einer Tasse Tee in den Händen haltend im Cockpit.
Position: 47° 46,828N / 005° 22,704W. Ziel: La Goruna.
Der Mond steht mit zunehmender Sichel relativ weit unten am Himmel. Es ist kühl, aber nicht kalt. Es ist dunkel aber nicht beängstigend. Der Mond, die Sterne und die Lichter der grossen, am Horizont zu erahnenden Frachtschiffe geben mir irgendwie das Gefühl in beschützender oder erhellender?! Gesellschaft zu sein.
Die mässigen Wellen mit ausgeprägter langer Form und weissen Schaumköpfen schieben uns – jetzt gerade relativ sanft –über die Bucht der Biskaya.
„Die Biskaya ist die grosse Bucht der französischen Westküste und der spanischen Nordküste.
Das Seerevier Biskaya ist für schwere Verhältnisse, ihre Stürme und Wellen berüchtigt. Die Ursachen hierfür sind im wesentlichem die folgenden:
Kontinentalshelf: Die Wassertiefe in der Biskaya nimmt schlagartig von 3000-4000m auf knappe 200m und weniger ab – lange Atlantikwellen werden dadurch abgebremst und steilen sich auf.
Wellenreflexion: die Wellen können aufgrund der Form der Biskaya-Küsten reflektiert werden. So können gefährliche Überlagerungen entstehen.
Westwinde: Die Biskaya ist ein Durchzugsgebiet atlantischer Tiefdruckgebiete. Ihre Zugbahnen verlaufen durch die oder nördlich der Biskaya. Das hat zur Folge, dass Stürme häufig sind und typischerweise eine Westkomponente haben. Grundsätzlich können Legerwall-Situationen entstehen.“
Quelle: https://www.skipperguide.de/wiki/Biskaya
Der Wind kommt mit 4-5 Windstärken aus 150° von hinten und unsere Arbeitsfock leistet ihr Bestes. Sie lässt uns mit 5kn in Richtung Gijon segeln.
Ja, Gijon. Das liegt ca. 125NM östich von La Goruna. Und genau mit diesem Problem beschäftige ich mich unter anderem während meiner Wache. Durch Kreuzen vor dem Wind behalte ich den Zielort La Coruna wenigstens auf der Karte bzw. auf dem Kartenplotter im Auge und versuche so tief vor den Wind zu gehen, wie möglich.
Jeder, der schon mit achterlichen Winden und der Atlantikdünung versucht hat, optimale “Tiefe” zu segeln, weiß, wie hierbei wegen der unvermeidlichen Winddrehungen das Rigg malträtiert wird.
Ich gebe zu, ab und zu verdränge ich das Geräusch der in sich zusammenfallenden Fock und den Gedanken an den Parasailor oder wenigstens ein ausgebaumtes Vorsegel. Dann lege ich den Kopf in den Nacken und schaue in den klaren Nachthimmel.
Keine Sorge, es ist nur eine kurze Kitsch-Zeile: Die Anzahl und vor allem die Vielfalt der Sternschnuppen ist unbeschreiblich und wunderschön!
Beim Blick in den Himmel fällt mir der stark, sich mit den rollenden Wellen – die in der Zwischenzeit wieder erheblich zugenommen haben – nach links und rechts schwankende Mast auf.
Ganz oben zeigt unsere Dreifarb-Laterne (vorne stb: grün; vorne bb: rot; hinten: weiss) anderen Schiffen an, dass wir unter Segeln unterwegs sind.
Bei dem Anblick könnte es einem beinahe etwas schwindelig werden. Die Wellen machen sich überall bemerkbar. Sie lassen den Dinghy-Anker in der Backskiste klappern. Nebst dem kostenlosen Dauer-Bauchmuskel-Training lassen sie einen mit dem einen oder anderen Rums daran erinnern, was man unter Deck noch bzw. erneut sichern sollte.
Wer sich wieder einmal in seine Kinderwiege zurückfühlen möchte, sollte versuchen, während seiner dreistündigen Pause in einer von links nach rechts rollenden Koje ein- und durchzuschlafen.
Ja, bis zu einem gewissen Punkt kann das angenehm und beruhigend sein. Aber liebe Mamis und Papis da draussen, nicht übertreiben. Sobald die Fliehkräfte zu stark werden, wird es echt ätzend! Zusätzlich bleiben einem die blauen Flecken dann noch als kleine Erinnerung erhalten.
Ein Licht am Horizont lässt mich einen Kontrollblick auf den Kartenplotter machen. Dieser zeigt mir alle nötigen Informationen über das Schiff an: Es sind die Positionslichter eines unter Maschine fahrenden Passagierschiffes mit dem Ziel und Kurs: Cork. Speed: 9kn.
Beim Blick auf den Bildschirm, welcher mir die elektronische Seekarte, alle anderen Schiffe mit aktivem AIS, unsere Koordinaten, unseren aktuellen Kurs, Speed etc. anzeigt, fällt mir unter anderem unser heutiges Tracking auf. Sieht interessant aus. Leicht gezackt. Landratten würden fragen: „Wieso seid ihr nicht einfach geradeaus gefahren?“ Segler nennen es: Kreuzen.
Ziel und Kurs: Hmm, nennen wir es mal „die Küste Nordspaniens“?! Speed: 3,4kn.
Dennoch: Wir sind seit bald 12 Stunden unterwegs und haben bereits sehr gut Strecke – und das alles unter Segeln! – gemacht.
Martin schläft, Karma schläft. Das Wasser und das Leben darin erwachen mit der aufgehenden Sonne in den neuen Tag. Das Geräusch der schnaufenden Delfine in meinem Rücken kenne ich mittlerweile und ich liebe es! Sehnsüchtig suche ich die geheimnisvollen Säugetiere und erblicke mindestens 10 Stück, wie sie links und rechts von Fairytales Bug schwimmen und springen.
Es ist ein Phänomen. Egal wie alt, welchen Geschlechts und aus welcher Kultur jemand ist. Ich behaupte, dass es zwei Dinge gibt, die jedem Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubern: Das Steigenlassen eines Drachen und frei schwimmende Delphine.
Ein Gefühl von Freiheit, Unbekümmertheit und Glück scheint in uns geweckt zu werden.
Die intelligenten Schwimmer begleiten uns während einer halben Stunde und ich sitze – immer wieder aufs Neue fasziniert und mit einem Lächeln im Gesicht – auf Fairytales Bug, geniesse die aufgehende Sonne und den Anblick der Tiere.
Ja, unterdessen ist der 06. September 2019 und meine 5 – 8 Uhr Wache angebrochen und wir fahren unter Motor, da der Wind mit 1-2 Windstärken nicht mehr segelbar war (Da hätte nun auch der Parasailor seine Grenzen erreicht…). Immerhin fahren wir nun mit 5,5kn, das sind übrigens 10,186km/h (da 1Knoten = 1,852km/h) und direktem Kurs Richtung La Coruna.
Was wir also so machen, wenn wir eine mehrstündige oder gar mehrtägige Überfahrt haben?!
Nein, wir denken nicht nur über praktischere Segel, Sternschnuppen und Delphine nach.
Unter anderem müssen natürlich auch die Wetterdaten abgerufen (je nach Position via Internet, Funk oder per Amateurfunk und Satellitentelefon) und aktualisiert werden.
Welche Winde (Richtungen und Stärken) erwarten uns?
Zieht ein Gewitter auf oder könnte sogar die aktuelle Hurricane-Problematik in der Karibik Auswirkungen auf uns haben?
Welche Hoch- und Tiefdruckgebiete, Warm- und Kaltfronten sind vorhanden bzw. zu erwarten? Welche Temperaturen herrschen vor? Etc.
Entsprechende Vorkehrungen müssen wir treffen. Vom Bereitstellen der Gummistiefel über einen möglichen Segelwechsel bzw. die Besprechung der Reffeinstellungen, Erhöhung der Wantenspannung, Auf- oder Abbau des Biminis (Sonnendach) bis hin zum Warmwasser-Vorkochen für heissen Tee oder eine stärkende Brühe.
Das Meer „liegt nicht still“.
Meeresströmungen sind Massenströme des Meerwassers. Dabei gibt es sowohl die Gezeitenströme (Sonne, Mond und Erde sorgen dafür, dass das Wasser „kommt und geht“ und somit eine Strömung mit sich bringt) als auch kontinuierliche Wasserbewegungen globalen Ausmasses wie den Golfstrom (bedingt durch Wasser- und Lufttemperaturen, unterschiedliche Salzgehalte des Meerwassers, Wassertiefen, Unterwassergebirge etc.)
Da diese Strömungen unterstützend „mitschieben“, nervig gegen uns strömen, eine steile Welle hervorrufen o.Ä. können, müssen sie bei der Planung berücksichtigt werden.
Gezeitentabellen, Seekarten und moderne Technik helfen aber dabei, diese Strömungen, die richtigen Abfahrtszeiten etc. zu berechnen und entsprechend die Passage zu planen.
TSS = Traffic Separation Sheme. Oder auch: Verkehrstrennungsgebiet. Nennen wir es Autobahn auf dem Wasser. Diese Seeschifffahrtsstrassen sind in den unterschiedlichsten Revieren der Weltmeere anzutreffen und dienen den unzähligen Fracht- und Grossschiffen in Ballungsgebieten als Orientierung bzw. tatsächlich als Strasse um von A nach B zu kommen.
Ja, den Fracht- und Grossschiffen. Nicht, bzw. nur unter Berücksichtigung der internationalen KVR=Kollisionsverhütungsregeln, den Freizeit- und Langfahrtseglern.
Hier gilt besondere Vorsicht und Einhaltung der, in den Karten eingezeichneten Grenzen bzw. Beachtung der Gesetze.
Wir haben ein aktives AIS an Bord.
„Der Begriff Automatic Identification System oder Universal Automatic Identification System bezeichnet ein Funksystem, das durch den Austausch von Navigations- und anderen Schiffsdaten die Sicherheit und die Lenkung des Schiffsverkehrs verbessert.“
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Automatic_Identification_System
Wir können nicht nur die grossen „Dickerchen“ und ihre Daten auf dem Kartenplotter ablesen, sondern werden auch gesehen. Damit ist ein rechtzeitiges Ausweichen und Verhindern einer Kollision möglich.
Ein Rundumblick alle 30 Minuten ist dennoch unverzichtbar. Der Alarm, der bei einer Kollisionsgefahr ausgelöst wird, ist trotzdem hilfreich. Längst nicht alle Freizeitboote besitzen ein aktives AIS. Da müssen „Fahren und Ausweichen nach Sicht“ oder aber auch das gute alte Radar-Gerät ausreichen.
Nicht nur Fracht- und Grossschiffe sind da draussen zu jeder Tages- und Nacht- und Jahreszeit unterwegs. Auch die Fischkutter treiben 24/7 ihr „Unwesen“.
Vor allem aber die ausgesetzten Fischernetze- und Körbe, welche an hübschen bunten Bojen hängen, sind mitunter unsere bzw. unserer Schiffsschraube grössten Feinde. Hier kann man nur die Augen offen, genügend Abstand zur Küste halten (in der Hoffnung, dass die Fischer die Netzte vor allem da ausgesetzt haben) und nachts darauf hoffen, bloss keine Leine, kein Netz o.Ä. in die Schraube zu bekommen.
Sehr unterhaltsam wird es, wenn sich TSS, Küstenwache und Fischkutter zu einem Sammeltreff entschliessen.
In Küstennähe kriegt man auf dem internationalen Funkkanal 16 so einiges mit. Wenn die Küstenwache einen Fischkutter aus dem TSS verjagen und ihn sanft auf das französische bzw. internationale Gesetz hinweisen möchte, der Fischer da aber gerade den Fang seines Lebens zu machen scheint, kann der Ton via Funk auch mal anders klingen, die Kommunikation etwas länger dauern und uns ein sehr unterhaltsames Hörspiel liefern.
Wo wir gerade beim Thema Fisch sind. Da fängt mein Bauch an zu knurren.
Seekrankheit kenne ich zum Glück nicht. Ja, ich klopfe gerade auf unser Teak-Holz im Cockpit.
Brötchen schmieren, Suppe kochen oder eine Wassermelone aufschneiden, kann und mache ich bei nahezu allen Seegangs-, Wetter- und Tages- bzw. Nachtbedingungen. Es ist natürlich empfehlenswert, sich vor einer längeren Überfahrt Gedanken zur Verpflegung zu machen und die eine oder andere Zwischenverpflegung vorzukochen bzw. griffbereit vorzubereiten.
Wenn ich mich nun also während meiner dreistündigen Wache nicht gerade vom AIS-Alarm gestresst, eine Fischerboje aus der Schraube zerrend (wovon wir bisher zum Glück verschont geblieben sind), mich über den fehlenden Parasailor beklagend und sternenguckend im Cockpit aufhalte und währenddessen den Delphinatemzügen lausche, Brötchen schmiere und nebenbei die Segeleinstellungen nachjustiere, kann es durchaus auch mal sein, dass ich auf dem Laptop einen Film schaue, auf dem Kindle ein Buch lese, Blogbeiträge in die Tasten haue, mir bereits Gedanken zur nächsten Route oder zu Landausflügen beim nächsten Zielhafen mache (gegebenenfalls müssen diese auch mal zwei Zielhäfen oder eine ganze Küste abdecken) oder auch einfach nur mit Karma spiele oder „nichts tue“.
In diesem Sinne verabschiede ich mich nun in meine nächste dreistündige Pause, bin gespannt, welchen Hafen der spanischen Nordküste wir bei meiner nächsten Wache anpeilen werden und hoffe, dass es die Fliehkräfte bzw. die Atlantikdünung nicht zu schlecht mit mir meinen…